Ilse Aichinger über Gerhard Gruber

Interview Ilse Aichinger:




Der folgende Artikel von Ilse Aichinger über den Stummfilm-Pianisten Gerhard Gruber erschien im Oktober 2006 in ihrem Buch "Subtexte" (Verlag Korrespondenzen) sowie im Buch "Kino ohne Land" (No place for a cinema) von Almut Rink und Ruth Kaaserer (Verlag Czernin):


DER FILMERZIEHER
Weder trägt er einen Wiener Orden, noch sorgt er im Rathaus für Aufregung und Rätselraten wie Michael Jackson. Gerhard Gruber, Komponist und Musiker ("der Klavierspieler", wie er für mich heißt), kommt aus der kargen Landschaft des Mühlviertels. Er improvisiert auf dem Klavier zu Stummfilmen, in dem Dreieck, in dem auch ich mich oft bewege: zwischen Metro-Kino, Breitenseer Lichtspielen und Filmmuseum - nicht Bermuda, aber doch der sicherste Ort, um zu verschwinden.

Er macht jeden Film erst möglich und ihn zugleich unnötig. Wer seine Hände auf den beleuchteten Tasten sieht, kann es riskieren, selbst Chaplin zu vergessen, um seiner Erinnerung an ihn aufzuhelfen. Sollte man sich bei Selbstvergessenen fragen, wie viel sie zu vergessen haben? Für Gerhard Gruber ist das nicht relevant. Komponieren ist ein intellektueller Akt, erklärt er, Improvisation ein Liebesakt. "Es würde mich nicht wundern, wenn mein Spiel den Film verändert." Ob er, der weiß, wie viel den Bildern durch das Dialogkino verloren gegangen ist, eine "Petition gegen den Tonfilm" unterzeichnen würde?

"Grubers Form der Bescheidenheit ist zugleich seine Größe", sagt Alexander Horwath (Österreichisches Filmmuseum). "Die spezielle Tatsache, dass bei der Stummfilmmusik der eine Teil ,tot' (d. h. alt und auf Zelluloid gespeichert) und der andere Teil ,lebendig' (also live anwesend und handlungsfähig) ist, verlangt paradoxerweise nach einem Musiker, der sich gerade mit diesem Umstand (also mit dem eigenen ,Vorteil') nicht zufrieden gibt, der den ,toten' Teil genauso lebendig haben möchte, wie er selbst es ist."

"Mir geht die Luft nicht aus, aber ich weiß nicht, was ich mit ihr anfangen soll", konstatiert E. M. Cioran. Aber wer Gerhard Grubers Klavierspiel hört, ist wieder imstande, seinen Atemzügen zu trauen. "Wir gehen durch die Felder und freuen uns", schrieb Adalbert Stifter (wie lange vor der Nacht, in der er sich mit dem Rasiermesser die Kehle durchschnitt, wäre sicher herauszufinden). "Der Mann kann sehr glücklich sein", heißt es in der Stifter-Monografie von Urban Riedl - und das führt wieder zum Stifter-Fan Gerhard Gruber.

Die Frage nach dem "Subtext" einer Person bewegt sich bei Stifter und Gruber konträr und doch aufeinander zu. Gerhard Gruber hat Glück mit sich selbst und sollte, falls er Lust hat, dieses Glück noch sehr lange weitergeben. Er weiß, dass man das Urwüchsige zerstört, wenn man es ans Licht zerrt; dass man tötet, was man entmystifiziert. Wenn der "Skwaraismus" (so Martin Walser über Erich Wolfgang Skwara) "die Leidenschaft ist, die ihre Unerfüllbarkeit zum Programm macht", so ist Gerhard Gruber der leibhaftige Antipode zu dieser Definition.

Auch schwer erträgliche Zustände weichen für den, der zum Beispiel nach dem Film "Die Lawine", einem nach Gerhard Gruber "schwer erziehbaren Film", nach Hause oder sonst wohin geht. (Manche Filme tragen sich von selbst, erklärt er, andere müssen "gezogen" werden. Aber es sei Sache des Erziehers, auch die zu mögen, die er nicht mag.) "In der Nacht laufen die Stummfilme weiter. Ich träume in Stummfilm, blau viragiert." Und "Der Typ vom Grab nebenan" (heute um 18 Uhr im Cine-Kino)? Man sollte ihn dort herausholen und zusammen mit anderen Scheintodgefährdeten rasch nach Breitensee zu Gerhard Gruber bringen.

(mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

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ENGLISH VERSION:

Blue-Toned Silent Film Dreams

He doesn’t wear a Viennese medal of honor, nor does he create a commotion in the parliament and cause guessing games like Michael Jackson. Gerhard Gruber, composer and musician (“the piano player” as I know him), comes from the barren landscape of
the Muehlviertel. He improvises on the piano to the silent films in the triangle that I often move in: between the Metro-Kino, the Breitenseer Lichtspiele, and the Filmmuseum—not Bermuda, but still a place where you can safely disappear.
He is the one who first makes each film possible and, at the same time, unnecessary. Those who have seen his hands move on the illuminated keys might even risk forgetting Chaplin to boost their memory of him. In letting yourself go, should you ask how much you have to let go? For Gerhard Gruber that isn’t relevant. Composing is an intellectual act. As he explains, improvisation is an act of love. “It wouldn’t surprise me if my playing changed the film.” And would this man—someone who knows how much the pictures have lost through dialogue cinema—sign a “petition against the talkies”?
“Gruber’s form of modesty is likewise his greatness,” said Alexander Horwath (of the Austrian Filmmuseum). “The particular situation of silent film music, in which one part is ‘dead’ (which means old and stored on celluloid) and the other part ‘living’ (alive and capable of acting), paradoxically demands a musician who is not satisfied with this situation (with his or her own ‘advantage’), who wants to make the ‘dead’ part just as much alive as he or she is.”
“I am still breathing the air, but I don’t know what I should do with it,” stated E. M. Cioran. Those who listen to Gerhard Gruber play the piano can once again trust their own breath.

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And Der Typ vom Grab nebenan (The guy in the next grave) (today at 6 p.m. in Cine-Kino)? You should help him out of there and quickly bring him, together with the others in danger of apparent death, to Breitensee, to Gerhard Gruber.

First published in: Die Presse, 12 March 2005, as “Der Filmerzieher.”
Translated by Lisa Rosenblatt.


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